Dirkmarkus Lichtenberger

UNCED ECO 92 Brasilien Nachhaltig
Nachhaltige Reportagen und Erlebnisse
zwischen Sao Paulo, Jericoacoara und Altamira Xingu



Belem Beleza
Mulher Brasileira?

Schönes Tier Rätseln
Dirkmarkus Lichtenberger
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Brasilianische Schönheit, Beleza Brasileira, eine hübsche Tierpflegerin im Zoo von Belem strich an mir warnend vorüber, ich solle mich vor Krallen in Acht nehmen, als ich meine Hände einem grünen beseelten Algen-Klumpen näherte:
Der Kopf ist zu klein, die Extremitäten sind zu lang, der Rumpf in einem skurillen Verhältnis von Breite, Höhe und Länge! Augen, Mund und Ohren verbergen sich im Fellgestrüpp. Finger und Zehen, Ober- und Unterarme gliedern sich nur verschwommen, unbestimmt heraus. Die Arme und Beine scheinen so flexibel wie ein Affenschwanz zu sein – nur daß sie sich nicht einrollen können. Ein zottiges und doch wieder an Haarausfall leidendes Fell. Struppig, matt, unansehnlich, gelbbraun oder graugrün, beinahe faulig oder schimmelig wie alte Kleidung, die lange im Keller feucht und unbelüftet gelegen hat. Ärmlich, demütig, unauffällig, erbärmlich, geradezu mitleiderregend, vernachlässigt, ohne Sauberkeitsbedürfnis, formlos, unattraktiv – keine Grazie, kein Edeltum. Der Wunsch regt sich, es zu pflegen, zu bürsten und zu kämmen.
– Ungeheure Dichtigkeit, Konzentration von Fleisch, Wurzelhaftigkeit, Sehnigkeit, dabei Gestaltlosigkeit, Plumphaftigkeit, Disharmonie, Mißgebildetheit, Krüppelhaftigkeit, Monstrigkeit, Proportionsverlustigkeit, Festigkeit, Bestimmtheit, Furchtlosigkeit, Gottvertrauen, Gelassenheit, Starrsinnigkeit, Harmlosigkeit, Unerbittlichkeit, Hartnäckigkeit, Ausdauer.
Ahnungen von Urzeiten, reptilien-, vogelhafte Krallen, beinahe krebsscherenhafte Füße, unklare tastende entrhythmisierte, chaotische, willenshafte Vergangenheitsbildekräfte. Ein zum Kriechtierdasein tendierendes, gefährdetes Ringen um Aufrichtung, Koordinations-, Gleichgewichtsprobleme. Insektenhafte Unnahbarkeit, krebspanzerhafte Staksigkeit, ins Korsett gezwungener Bewegungstrieb, dödelhafte Intelligenz, Beschränktheit, Narrentum, Trotteligkeit.
Ist es die Inkarnation einer pathologischen Lebensform schlechthin? Das Musterbeispiel für Häßlichkeit, Verzerrtheit, Mißgestaltetheit? Ist es der Verlust oder die Dekadenz tierischer Grundeigenschaften wie Bewegung, Sinnesaktivität, die so frappiert? – Die traurige Bewunderung schwankt zwischen Entsetzen und Heiterkeit, Mitgefühl und Achtung für dieses seltsame, merkwürdige, kuriose Wesen.
Als wir an sein Zoobiotop traten, versuchte es gerade sich aufzurichten. Von hinten erschien es als überdimensionierte Ratten-, Iltis-, Hasenkreuzung. Ein weißer heller Fleck auf dem Rücken gab ihm eine magische Sonderbarkeit: Ein dinosaurierhaftes Kleinsäugetier ohne Nacken, Rückenlinie, Bewegungsorgan unternahm die anscheinend übertierische Anstrengung, sich in dem mit niedrigem Pflanzenbewuchs bedeckten Raum zu erheben, zu orientieren, zu suchen.
Sein Vorsatz lief so langsam ab, daß der Begriff Zeitlupe dafür nicht übertrieben ist. Es schaute sich gewissermaßen selbst dabei zu, was es tat. Wie wenn es in der Vergangenheit bliebe, während sich die Zukunft realisierte.
Die Gegenwart: Ein großes leeres Loch, ein Abgrund der Zeit. Es kommt immer zu spät. Der Akt ist längst vorüber, strömt im Zeitverlauf zu ihm vergangenwärts, während aktuell schon wieder neue Geschehnisse passieren. Es sieht zu, wie etwas in der Zukunft passiert und wartet bis das Resultat in der Vergangenheit eintrifft. Es klingt absurd und verrückt: Es ist so sehr mit dem Lesen und Erwarten der Zukunft beschäftigt, daß es seine aktuelle Tätigkeit darüber vergißt.
Seine Vorderkrallen tasten hilflos nach oben, um einen Halt zu suchen oder noch besser gleich einen Baumstamm, an dem es sich hochklettern läßt.
Der Boden ist nicht sein Lieblingsbewegungsraum. Seine einem den Atem zum Anhalten bringenden kreisenden Bewegungen führen nicht zum Erfolg.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit stürzt es wie gelähmt ein kleines Mäuerchen auf den Sandplatz hinab. Selbst im Fallen beschleunigt sich sein Reaktionsvermögen nicht. Es fällt auf seine Vorderseite und die ausgestreckten Pfoten ohne irgendeine Gegensteuerung, Geschmeidigkeit und Orientierung – als ob es blind für Gefahr ist. Draußen ist es 35° Hitze heiß und enorm feucht, doch das Tier verhält sich wie in Kältestarre. Jede seiner sparsamen Bewegungen erzeugt sich geradezu durch kleine frisch und mühsam entzündete Feuerchen, die die Mindestwärme für ein inneres gezieltes Tun erlauben.
Als wären es seine letzten Kräfte, reißt es sich zusammen und versucht seinen linkischen Auftritt gutzumachen. Wie kann Tier sich nur so langsam bewegen, daß es vor lauter Langsamkeit die Gesetze der Schwerkraft mißachtet und zwangsläufig kopfüber fallen muß? Völlig verwirrt dreht es sich halb im Kreise, um erneut vergeblich eine senkrechte Stütze zu finden.
Wie soll das nur weitergehen? So wird es ja verhungern! Nur ein auf seinem Rücken zappelnder Käfer ist beklagenswerter. „Nimm dich zusammen, konzentriere dich, beeile dich vor allem ein wenig, sonst kommst du nie voran!“ durchfährt es mich. Weiß es nicht ein noch aus? Was hat es überhaupt vor?
Da rührt sich ein schläfriges Häufchen Fell mit minimaler Artistik ziellos verquer ratlos, wie es den geliebten Baumstamm erreichen kann. Es kriecht in die Ecke, wohl innerlich ächzend – ich würde es jedenfalls an seiner Stelle tun –, um zu seinem Absturzort zurückzuklettern. Kaum hat es sich halbwegs hoch gerichtet, bricht seine schon klare Linie wieder zusammen. Es wankt und fällt erneut seitwärts. Das Tier stellt sich wirklich an – wie der erste Mensch laufen lernte! Nur macht es leider keine Fortschritte.
Das Problem, seine Eigenart als seine ihm eigene Lebensweise schlicht zu akzeptieren, bestand darin, daß ich von ihm verlangte, was es nicht konnte. Ich hatte die Bilder flinker gewitzter Äffchen, elegant trabender Pferdebeine, sinneswacher und stimmgewaltiger Hunde vor mir und erwartete nun ähnliche Leistungen von diesem Faultier. Der geringschätzige Name Faultier paßt nicht, denn es ist ja bemüht und aktiv, sucht sich zu verändern und seine Umgebung in den Griff zu kriegen. Bessere Namen wären Zeitdehntier, Zukunftsverschläfer, Müh-Dich-Ab, Lahm-Taub-Optimist.
– Bevor das Faultier einfaulen konnte, kam die schöne Wärterin, die es mit geübtem Griff in den Rücken packte. Es streckte alle Viere rudernd in die Luft – ganz ganz langsam versteht sich – und wußte nicht, wie es ihm geschah. Nach dem Fall die Erhebung gen Himmel. Die das Tier außerordentlich liebende Frau heftete es an einen dicken Baumstamm. Doch hätte sie losgelassen, es wäre hinabgefallen. Sie hielt das Tier so lange fest, bis die Lage geklärt war. „Ach, der Baum ist für mich! Was muß ich tun? Festkrallen. Ja, richtig.“
Gesagt, getan. Das Faultier klammert sich an den Stamm, schiebt den Kopf zur Seite und beginnt wie ein Bergsteiger seinen Aufstieg zur Krone. Langsam, gemächlich. Schnurgerade empor geht der Weg. Es hat genug Zeit zu verlieren. „Es braucht nur zehn Minuten bis zur Spitze“, erklärt die Wärterin stolz. „Es ist schneller als Sie denken. Wenn es bloß nicht so träge und unaufmerksam wäre. Vor einiger Zeit kletterte eins der Faultiere seinen Stamm hinunter, immer weiter, mitten in das Rondell des Panthers. Es hatte gar nichts davon bemerkt. Und oben in der Krone war das ja nicht zu ahnen, daß der Weg geradewegs in die Pranken der Raubtiere führte. So aber kam es.“ Die Zoowärterin schaute seinem noch lebenden Kameraden mitfühlend und etwas besorgt nach.
Ich versuchte mich in den Moment hineinzuversetzen, als das Faultier seine Lage verspürt haben mußte: Wahrscheinlich war es längst aufgefressen, als die Botschaft ankam und es merkte, daß der Panther es verschlungen hatte ... Die Wärterin am Ausgang warf mir kichernd eine Kußhand nach, als ich den Zoo verließ. Wäre ich nicht noch ein schüchternes Faultier, sondern ein geistesgegenwärtiger Mensch gewesen, ich hätte mich blitzartig umgedreht, um die Sympathie-Geste meiner Gönnerin galant lächelnd mit Bravour zu erwidern.
So aber spürte ich erst viele Jahre später, wie mich plötzlich ein Mund auf meinen Mund küßte ... als ein vom Panther gefressenes Faultier im siebenten Himmel seine endlich auch gefressene Zoo-Gattin wiedertraf, die nicht nur ihm, sondern auch unseren Ur-Ahnen Megatherium, Mylodon und Grypotherium meine hier notierte Geschichte erzählte und treuselig meine lange lange aufgesparten Grüße an mein altes Totemtier Glyptodon und die übrigen zahnarmen oder zahnlosen Bradypodidae-Faultiere und Myrmecophagidae-Ameisenbären wisperte: Ein Lob an die Langsamkeit als Erfolgsrezept würdevollen Lebens.
Und ich warte noch immer auf die Auflösung des Rätsels, warum dieses gar nicht faule Tier zur Kotentleerung den gefahrvollen Weg vom Dach seiner Welt herab zum Fuße seines Haus-Baumes unternimmt, um dort ein Loch zu graben. Es hat das Geheimnis der Schönheit mit in sein Grab genommen.
2013 Flashback Belem Beleza Brasileira meldet sich mit einer Ergänzung wegen meiner Saatgutbank Algarve Seedbank Algarve Banco do Sementes:
Auf dem historischen Markt Ver-o-Peso in Belem bekam ich Knochen, Felle und Haut diverser Tiere zu Zauberzwecken an den Ständen der Stadthexen von Belem angeboten ... Belem Beleza Brasileira wog mir etwas Bauhinia-Liane gegen Diabetes ab. Belem Beleza Brasileira war keine afrobrasilianische Orixa-Göttin, die ihren Bauchnabel vor dem Bauchtanz auf Daniela Mercury's Swing da Cor mit Samenblut rot färbte. Sie gehörte zum Clan der Faultiere, beherrschte das Ifá-Orakel und wisperte mir auf Brasilianisch und in einem indigenen Dialekt okkulte Liebkosungen ins Ohr. "Belo Monte Monster Dam! Sting! Xingu Arara!"
Da ich nicht alles verstand und ich später auf der Goldgräber-Insel Arara im Xingu nicht prioritär sie, sondern vom Schicksal geplant  ein Skorpion treffen sollte, schrieb mir Belem Beleza folgenden Text mit der Feder einer gerupften Eule zur Warnung in mein Tagebuch:
E a serpente respondeu: “Está nas palavras! E atenção, cuidado com o que pensa e com o que fala, pois o que você pensar e falar acontecerá.”
E assim, ele desceu a montanha com os dons da Terra e do Céu. E experimentou dizendo “Arara” – e apareceu a primeira arara, e ele disse “Urkurea”, que significa coruja, e apareceu uma coruja. Assim foram surgindo vários pássaros, e ele viu que era verdade o poder da palavra. Porém ele continuou. Olhou para o chão e disse “Jacaré!” e assim apareceu o primeiro jacaré. “Paca, tatu.” e assim ele foi andando e falando, até chegar à margem de um rio. Quando ele falou “Aruanã, pirarucu”, foram surgindo os primeiros peixes na terra. E ele continuou falando e vários tipos de peixes foram sendo criados. Ele ficou impressionado e ressabiado – falou nomes de plantas, árvores e assim passou muito tempo no mundo pensando e falando.
Passado algum tempo ele voltou para a gruta e disse: “Oh Mãe Terra, vim devolver o corpo e os dons para viver na terra.”
“Não, não precisa devolve-los. Pode ficar para sempre” – respondeu a Mãe Terra.
E ele disse – “Eu tive a onça, a palmeira e a pedra, e tudo isso que eu tive, eu devolvi. Já aprendi e quero voltar para a terra do meu pai.”
Der Schamane in mir hatte Angst vor seinem Outcoming. Ich bekam eines Nachts zu Ostern Panikattacken, daß ich mich bösartig infizieren könnte. Mit AIDS, Kuru-Kuru oderso. Viele meiner indigenen Souvenirs aus Brasilien, prächtigen Schmuck und Kronen von Häuptlingen und Schamanen, Tänzerinnen und Zauberinnen aus Federn von Papagei, Flamingo, Arara ... und ein Dutzend Ketten aus Samen verbrannte ich gnadenlos im Osterfeuer, der alte Inquisitor war in mir erwacht und unterdrückte die Weisheit der Naturvölker.
Es dauerte viele viele Jahre bis ich auf der Erde begann, oral genetic engineering durch die Kraft des Wortes im Sprechen und Singen erlernen zu wollen. Schreiben und das Schreiben Lehren von Kindern hat mir ein bißchen geholfen, turbulente Buchstaben in die Luft zu zaubern. Aber solange ich nicht den wahren Rhythmus im Bossa Nova auf der Gitarre swingen kann, fehlt mir ein essentielles Element im chemischen Tonäther, um Saatgut nachhaltig zu züchten. Es geht so verdammt langsam voran. Ich will, ich möchte Land für die Landlosen dieser Erde frei kämpfen, bevor ich hoffentlich als Pazifist zu meinen Freunden der Arara ins Jenseits über Xingu, Amazonas und Transamazonian highway heim kehre.
(C) 1992, 2002, 2013 by Dirkmarkus Lichtenberger
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