Dirkmarkus Lichtenberger
Kinderbaustelle Herzlandgut Sao Paulo Monte Azul Eines Nachmittags trafen wir Antonio, der sich tollkühn und seine schon vorhandenen Verletzungen nicht beachtend mit einem klapprigen Dreirad, dessen stolzer Fahrer er seit einiger Zeit war, den steinübersäten holprigen Abhang neben der Schreinerei der Gemeinde Monte Azul in Sao Paulo hinabstürzte. Unten machte ihm sogleich ein anderer Herumstreuner den Besitz streitig, und ehe wir es uns versahen, waren die ersten feindlichen Steinwürfe gegeneinander ausgetauscht. Sofort griff ich als Friedensdiplomat ein und drängte Antonio zu dem Schutthaufen hin, der ihm als Munitionsnachschub diente. Ich griff einen flachen Stein heraus und erklärte ihm: „Wir malen jetzt Straßenschilder und Hausnummern.“ Der Junge zählte etwa zehn Jahre, doch wie weit seine schulischen Leistungen gediehen waren, würde sich nun beim Schreiben mit den roten Dachziegelstückchen herausstellen. Ganz angetan von meiner Tätigkeit des Steinflächenbemalens vergaß er sogar sein Automobil, das sowieso viel zu klein für ihn war und begann, mir nachzueifern. Bis ins Detail hinein versuchte er, meine Kurven, Linien, Punkte nachzuahmen. So untersuchten wir ein Weilchen das Wesen geometrischer Formen und beobachteten zugleich, wie er sich beim Spiralen-, Dreiecks-, Viereckszeichnen usw. anstellte. Er liebte es förmlich, es mir gleich zu tun und auf diese Weise mit mir zu kommunizieren, denn mit meinen Sprachkenntnissen stand ich am absoluten Zweiwochen-Praxis-Anfang. „Vamos facer uma exposicao (laß uns eine Ausstellung machen)“, radebrechte ich, als seine Nachahmungkräfte zu erlahmen begannen. Wir ordneten die Steinplatten in einer Reihe an und versuchten, sie deutlich aus dem sonstigen Schutt herauszuheben. Inzwischen hatten sich weitere Kinder neugierig genähert. „Was macht ihr da?“ fragte der mutigste kleine Wuschelkopf. Auf einmal sah ich in den Steinplatten-Konstellationen ein Modell einer Priesterstätte a la Stonehenge und beschloß intuitiv, aus dieser kleinen Kultanlage eine Wohnstätte zu erbauen. „Wir bauen hier eine Chacara (kleines Landhaus mit Garten, Feld, Acker, wie es die Association Monte Azul) selbst bewirtschaftet, ein Haus zum Wohnen mit Gemüsegarten und Wald, Brunnen und einem See - und ihr dürft helfen!“ In kürzester Zeit arbeitete ein Handwerker- und Handwerkerinnen-Team von 5 - 10jährigen an einer Siedlung, deren Ländereien sich mehr und mehr ausdehnten. Vom benachbarten Abhang wurde dunkle Erde herbeigeschafft, um den ausgelaugten rotstaubigen Boden zu bedecken, einige Zweige schöner Büsche mußten daran glauben und wurden zu Bäumen. Heller Kies verwandelte sich in Wege, Wassergräben und Brunneneinfassungen. Brücken zu dem Schuttberg wurden gebaut, die Dächer mit Elefantengras gedeckt, und nur der Einbruch der Dunkelheit verhinderte eine Fortsetzung dieser konkreten Utopie ... Zwei ältere Mädchen standen in einer Mischung aus Erhabenheit und Schüchternheit gerade soweit vom Bauplatz entfernt, daß sie alles verfolgen konnten, aber nicht unmittelbar zum Mitbauen aufzufordern waren. Um sie einzubeziehen, ermunterte ich sie, der Chacara einen Namen zu geben. Verlegenes Schweigen. „Ich weiß nicht“, wisperte es. „Vielleicht Chacara Monte Azul“, wagte sich die andere etwas mutiger heraus mit ihrer Sprache. „Aber die gibt es doch schon“, widersprach ich. „Wie sieht denn die Form des Grundstücks aus? Was fällt euch dazu ein?“ Andrea fühlte sich gefühlsmäßig angesprochen und entgegnete treuherzig: „Wie ein großes Herz!“ „Ja, dann sollte sie Chacara de Coracao heißen“ bestätigte ich freudig ihre Entdeckung. So war der Anfang einer herzlichen Freundschaft geschlossen, die sich bei zwei Besuchen in ihrem Haus mit gemeinsamem Kochen nach vorherigem Einkaufen zu Beginn und am Ende unserer Reise festigte. Den unausgesprochenen Wunsch der Kinder, das unansehnliche Gebiet zu verschönern, konnte ihre eigene Fähigkeit erfüllen, und es wurde uns berichtet, daß das Spiel am kommenden Tag weiterverfolgt wurde bis ein paar ältere Jungs mit ihren ungezügelten Aggressionskräften die aufblühende Zivilisation wieder dem Staubboden gleichmachten ... Tage später ... Ein kleiner Junge, der mitgespielt hatte, brachte uns zu seiner absturzgefährdeten Hütte. Seine Mutter kam mir nur halb überrascht entgegen: „Von Ihnen habe ich vor Wochen geträumt!“ (Vor Wochen war ich noch gar nicht in Brasilien gewesen!!!) Im Nu hatten mich die Schwestern von vorvorgestern, die die Schule nur unregelmäßig besuchten, zum Ersatzlehrer gemacht: Warum denn in die Schule gehen, wenn es auch im Alltag geht? Zwischen Radiogeplärre, Küchendämpfen, Babyweinen und einem Onkel, der sich die meiste Zeit des Tages auf der Couch unter einer Decke vor aller Welt außer vor seinem Hund schämte, unterrichtete ich Völkerkunde: „Wie sieht es aus in deinem Land? Wie kommt man da mit dem Bus hin? Was ist ein Ozean? Was, du bist geflogen? Wie reich bist du? Ist die D-Mark eine starke Währung? Was ist aus der Mauer geworden? Wo wohnt deine Familie?“ Mittendrin legt ein Mädchen eine Schallplatte auf, die ein Hörspiel zum Alten Testament in das enge Wohnzimmer einspielt, das sonntags als Kirche genutzt wird. Unvorbereitet wie ich bin, ohne Tafel und Schreibgeräte, Dias oder Bücher zeichne ich eine Weltkarte mit einer Tonscherbe aus dem Müllhaufen vor der Tür auf den Fußboden des Zimmers ... die brasilianische Sprache beherrsche ich noch kaum, also verlege ich mich lieber auf’s Kochen, brate deutsche Eierkuchen in der Pfanne und lerne die Namen der Lebensmittel und Küchengeräte und tanze während des Essens im Stehen einige Takte Samba: „Viva a vida viva! Lebe das lebendige Leben!“ ist ein Motto der brasilianischen Jugendkräfte der Zukunft, das Mut und Schule machen kann. |
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