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Swing da Cor Tanz,
Forro, Johannifest & UNCED 92 Eco Lasershow mit Daniela Mercury
Für Daniela Mercury
und meine brasilianische Tänzerin
auf dem Dorf Mirantao bei Resende
Dirkmarkus Lichtenberger
Rio de Janeiro Rio Earth Summit 1992
Sao Pedro da Serra
Nova Friburgo
 Mirantao (Uran-Resende/Minas Gerais)

Erdgipfel Global Forum Rio UNCED 92 Artists United
Von Nova Friburgo über Rio de Janeiro nach Mirantao
Mata Atlantica Caledonia
Mirantao Waldorf Kindergarten hinter den sieben Bergen ... Belo Horizonte


Global Forum Rio UNCED 92 Artists United

Den Vorwurf, einem ideologischen Irrationalismus zu huldigen, der unter der Federführung von Umberto Ecco als Manifest in den Medien gedruckt worden war, wiesen die Leader von Artists United for Nature emphatisch zurück. Eineinhalb Stunden später, nachdem zwei Stunden lang mir altbekannte Statements und Öko-Floskeln im Konferenzzelt ausgetauscht worden waren, meldete sich plötzlich ein langgelockter indianisch aussehender Mann zu Wort. Es dauerte keine zwanzig Sekunden, da war der ganze Saal mit über 120 Personen in der Gewalt seines Banns. „Ich bin Musiktherapeut. Morgen mache ich eine Aktion im Park. Da erhält jeder ein Musikinstrument, wir bilden eine lange Kette und machen ökologische Musik für die Erde, um positive Energien zu wecken. Doch ich will gleich hier anfangen. 1,2,3 ...“ brüllte er ins Mikro. „Macht es mir nach. Erst mal die Hände hoch werfen. Spürt Euren Körper. Schüttelt alles Negative ab. Entspannt Euch.“

Einschließlich Gilberto Gil, einem Mitbegründer der Partida Verde, der besonders fratzenhafte Verrenkungen anstellte, kam das Publikum nach dem endlosen Sitzen und Zuhören, Intellektualisieren zu einem ersten kreativen Genuß. Tanzen und Schreien dürfen wie im Rockkonzert. Es war wahrhaftig überraschend, daß sich diese stille geduldige eher akademisch aussehende Hörerschaft für kurze fünf Minuten in solche Ekstase versetzen ließ. Einige kurze fünftönige Melodien folgten dem Klatschen und gegen Ende wurden die zuerst eher aggressiven und schnellen Lautfolgen langsamer und melancholischer. Dann war der Spuk vorbei. Alle saßen wieder und einige Minute lang ging der Talk weiter.

Die Szene wäre ein gefundenes Fressen für’s Fernsehen gewesen – zur Unterstützung der Irrationalismusthese. Irrationalismus wurde auch den deutschen Grünen vorgeworfen. Die aktuelle Diskussion muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß der offizielle Tagungsort Rio Centro hermetisch abgeriegelt ist und vermutlich genauso wenig Informationen hineingebracht werden können wie sie hinausgelangen dürfen. Im Global Forum haben aber offenbar viele die irrationale, d.h. nicht den Verhältnissen entsprechende Hoffnung, daß die NGOs irgendwelche Botschaften und seien es nur Flehbriefe an die Regierungen der 150 Länder übermitteln können. Das Global Forum sieht sich als lebendig dynamisch entwicklungsfähig offen für alles  – „trans“, wie es Gilberto Gil formulierte. Offen für alles – leider auch für Verkaufsstände mit Coladosen. Die mit Colacoka Markenzeichen versehenen von Colacoca gestifteten Tischlein in den Parks vor den Buden quellen über vor Dosen.
Wie treuherzig war die Idee einer anwesenden Künstlerin des Columbus-Projektes, die vorschlug, die Dosen zu sammeln und etwas Kreatives daraus zu machen. Müllvermeidung war und ist den Veranstaltern des Global Forum offenbar ein Fremdwort gewesen. Auch im Saal äußerte sich eher Beifall als Widerspruch. So wagte ich mich mit meinem Vorschlag, die Buden zu bestreiken und am besten abzubauen, mit anderen Worten Colacoca hinauszuschmeißen, nicht heraus. – Köstliche Säfte von einheimische Früchten hätten die einheimischen Verkäufer servieren können. Aber auch das alternative Global Forum war für normalsterbliche arme Brasilianer ohne Eintrittskarte nicht zugänglich.

... Auf einer Bühne traten Up with People auf: Tänzerische Faxen in einer kitschigen Mischung aus brasilianischem Karneval und amerikanischem Entertainment. Mitten im fröhlichen Treiben stinkt das Meer zum Erbarmen zu uns herüber. Das Publikum rast. Alle tanzen auf den Bänken und auf dem Platz. “It’s karneval time!“ Panik bricht aus, weil alle nach unten zum Tanze wollen. „Jetzt ist die Zeit gekommen, mulher brasileira, brasilianische Frau,  du stehst auf dem ersten Platz.“ Das Publikum gröhlt mit Beleza de Ipanema.
Nun ist alles vorbei. Die Begeisterung ist wie vom Wind entfacht, aber das Stroh ist schon verbrannt. Wo kommt das neue Holz her, das ein Dauerbrenner ist?
„Brasilianer interessieren sich für die Person, nicht für die Sache!“ (Eine Entwicklungshelferin, etwas beleidigt, angenervt und ratlos, weil sie doch ihre Kultur-Mission als wesentlichen Stoff verkaufen will.)

... Gestern abend war es noch unerträglich warm. Über dem Meer standen direkt über der Oberfläche kleine Wölkchen – es stank entsetzlich am Strand, wie wenn 1000 Leute in den Sand gepinkelt hätten, denn dieser prominente Sand war nicht schön weiß und rieseltrocken, sondern eine feuchte Masse, beinahe wie Pappschnee ... Riesige Entfernungen; in Rio habe ich das Gefühl, ständig Bus zu fahren; diese rasen durch die Straßen und abends beschleunigen sie noch um ein Vielfaches, um die Wartezeiten der Staus tagsüber wettzumachen. Gespräche im Bus sind selten, ich traf noch nie dieselben Personen wieder.

Heute ist es nach der morgendlichen Feuchte und einem schwachen Gewitter sehr feucht; der Verkehrslärm ist etwas gedämpft. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich in nächster Nähe acht, neun, zehn Gebäude mit etwa zwölf Stockwerken und sechs, sieben, acht Fensterreihen. In jedem dieser kleinen Hochhäuser wohnen sicher über 200 Menschen. Doch der Blick geht weiter und bemerkt, es sind nicht nur zehn Gebäude, sondern zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig in allernächster Nähe! Allein die Straße zum Meerestrand wird von ca. vierzig bis fünfzig dieser Kästen umstanden und schon wohnen 10 000 Personen in der Nachbarschaft und alle, fast alle sind unbekannt. Die meisten kennen sich nicht. Jeder lebt für sich – wie kann es möglich werden, daß aus diesen Verhältnissen neue soziale Zusammenhänge geboren werden? Ist es möglich, daß alle diese Vereinzelten gemeinsame Interessen entwickeln statt zentral verwaltet und dirigiert zu werden? Was ist der Sinn dieser vielen Leben? Hinter jedem Fenster spielen jeden Tag so viele Geschichten, Tragödien, Absurditäten, Banalitäten, Freudiges, Alltag, Kampf, Liebe, Streit, Bettgeschichten, Abendessen, Fernsehen, Zigarettenrauchen und aus dem Fenster Sehen, wie sich die Straßenkinder mit Pappe zudecken. Fensterputzen einer Embragada (Dienstbotin), nein Empregada, die putzen muß, auch wenn sie Angst vor dem Absturz hat, in der Ferne der Zuckerhut mit seinem kleinen Häuschen oben – was ist so süß an ihm? Das Meer ist heute blaugrau und sieht sehr unfreundlich aus. Es reicht bis zu den Hochhausspitzen in der Perspektive hinauf. Dort oben, hinten jenseits der Horizontlinie liegt unser ersehntes, vermißtes Europa. Ja, nicht nur Deutschland, auch Frankreich, Italien, alle Länder, die wir kennen und nicht kennen, fehlen uns.
Ich will hinuntergehen an den Strand von Ipanema, eine Runde baden, beim Bäcker einige Brötchen mitnehmen und den Straßenkindern eine Tüte Backwaren kaufen ... mein Appartment mit Dachterrasse habe ich für 7 Dollar den Tag preisgünstig bei einem Rechtsanwalt angemietet, nachdem ich schlaflose Nächte in einem stickigen Verschlag ohne Fenster zugebracht hatte.


Von Nova Friburgo über Rio de Janeiro nach Mirantao

Vor 200 Jahren von Schweizer Einwanderern gegründet verraten Hausbautenstile und blauäugig-blonde Erbfaktoren ein Stück Geschichte. 40 km auf dem Land draußen lebt eine Gemeinde mit starkem Hippieanteil zwischen den Bergen im Mata Atlantica Urwald, die seit einiger Zeit gerne von der begüterten Oberschicht des drei Stunden entfernten Rios besucht wird. Ein Eingangsschild an der nichtasphaltierten roten Lehmstraße zeugt noch von dem Geist der Gründerzeit der Aussteigerkultur: „Hier lebt der Frieden des Universums!“ Der berühmte Popschlager von Simon und Garfunkel „Sound of Silence“ ist hier sogar in die Kirchenmesse integriert worden, und auch die Nichthippies lieben es, wenn sie am Ende der Predigt das Vater-Unser-Im-Himmel auf diese Melodie singen!
In Sao Pedro da Serra wird es abends eiskalt; trotzdem haben die vielen mit bunten Tüchern geschmückten Hippie-Kneipen Türe und Fenster geöffnet. Aufwärmen mit heißem Kakao; die Einwohner laufen mit Pudelmütze, Schal und Handcschuhen herum ...
Nova Friburgo lag noch im Nebel, doch bald fuhren wir den sonnenbeschienenen Abbruch des Mata Atlantica zur Tiefebene des Meeres hinab. Viele Kilometer vor Nitteroi häuften sich die Ortschaften mit kleinen Industrieansiedlungen, vielen Keramikmanufakturen – alles ziemlich zersiedelt. Viele Berge sind glattrasiert, kein Baum steht mehr und oft bleibt der nackte abgeschürfte rote Erdboden übrig. Dann beginnt die Hafengegend mit dem typische Rio-Gestank. Über der Stadt ist schon von weitem eine riesige Dunstglocke ausgebreitet zu sehen. Eine große Dunstbank erstreckt sich entlang der Küste über dem Zentrum. Links der Brücke ist Rio in ein rosagraues Licht getaucht. Ganz schwach schimmert der Christus mit seinen ausgestreckten Armen durch. Auf der rechten Seite beginnt das blaue Leuchten des Meeres und der Luft bei noch niedrigem Sonnenstand. Als wir die Brücke überfahren rückt das Zentrum mit seinen charakteristischen Hochhäusern näher. Rechts ankern große Überseeschiffe. Noch einige Blicke können wir auf den Hafen werfen, dann hat uns das Straßen- und Gebäudegewirr verschlungen. Wenige Minuten später erreichen wir die Rodoviaria. Von manchen Ankömmlingen wird der Busbahnhof so gefürchtet, daß für sie ein Begleitschutz mit mietbarem Sicherheitspersonal eingerichtet wurde. Hier herrscht jetzt ein reges Treiben mit vielen zwielichtige Gestalten wie wir es von dem provinziellen Nova Friburgo her gar nicht mehr gewohnt waren.  Auch die schwarze Hautfarbe tritt wieder in Erscheinung; blondgelockte Menschen mit schweizerischen Berggesichtern sind verschwunden. Wir sind wieder von typisch brasilianischen Leuten umgeben. Wir haben das Glück, eine halbe Stunde später Anschluß nach Resende zu bekommen. An der Ausfahrt des Busbahnhofes hören wir wieder die armen Händler schreien: „Aqua fresquinha, 1000 Cruzeiros, Biscottas, Biscottas“, für die der Busfahrer extra anhält, um ihnen ein kleines Geschäft zu gönnen. Dutzende von Händlern Tisch an Tisch gereiht in der Hoffnung auf einen kleinen Tagesumsatz.
Was hat diese Menschen hierher gelockt, wo doch die Konkurrenz so groß und das Einkommen so klein ist, obwohl doch die Stadt so rauh ist und die Verführungen einer Stadt so unerreichbar sind? Schnell verläßt der Motorist das Zentrum unter der Linha vermelha hindurch auf die Dutra Richtung Sao Paulo. Hier im Nordteil der Stadt fern von Zuckerhut und Copacabana befinden sich fast nur Industrieansiedlungen in denen Wohnhäuser ersticken. Da und wann regt sich eine Favela durch. Ein Gemisch aus Backstein, Container und Bretterbuden. Der Glanz des Touristen- und Vergnügungsrios ist hier nie angekommen. Auf der sechsspurigen Stadtautobahn donnert und stinkt der Verkehr. Endlos ziehen sich alle möglichen Klein- und Großunternehmen mit meist überalterten Gebäuden, gigantische Werbeplakattafen (so auch „ECO 92, der beliebte Slogan in Rio, fiel auf), viele Autoersatzteilgeschäfte von Mechanikern, die alte Autos zerlegen, Schrottplätze, Reifenflickwerkstätten, Tankstellen bis weit auf’s Land hinaus ... allmählich nimmt der Verkehr ab. Berge und Grün kehren wieder zurück; es entsteht überhaupt wieder eine Art Landschaftsbild. Kleine Farmen mit Bananenstauden liegen am Straßenrand und ihre Besitzer verkaufen zuhauf Bananenstauden. Die Autofahrer werden auch mit frischer Koskosmilch im Sonderangebot (em promocao) zum Anhalten verlockt ...  Es geht langsam bergauf ... nachdem wir den nordwestlichen Stadtausläufer Nova Iguacu verlassen haben. Der Mata Atlantica ist größtenteils zerstört. Die hügelige Gegend besitzt keine Wälder mehr, sondern riesige Anhäufungen von rotem vom Wasser zerfressenem Sandstein blieben übrig. Von der Anhöhe blicken wir auf eine riesige rote hügelige Wüste. Gelegentlich sind einige Hügel und Bergabhänge intakt erhalten geblieben. Im Land der Anhöhe schlängeln sich viele Flußläufe. Über weite Strecken ist die linke Seite völlig verkarstet. Auch in den grünen Gebieten rechts gibt es oft die roten Schürfwunden. Wir wissen nicht, wer diese großen Verwüstungen angerichtet hat und zu welchem Zweck der Regenwald hier abgeholzt wurde. Auch die häufigen Schwelbrände am Straßenrand und die größeren abgebrannten schwarzen zurückgebliebenen Flächen sind uns unerklärlich. Nach einer weiteren Viertelstunde zeigen sich kleinere Industriegebäude: Shell, Mercedes-Benz ... oftmals große Parkplätze mit Tankwagen – es ist nicht recht zu erkennen, was hier getrieben wird. Manchmal führen Straßen hinter die Abraumhalden, deren Eingänge versperrt und bewacht sind.
Es ist schade um die schöne Landschaft mit den vielen Kuppen und Aufwölbungen.
Relativ plötzlich liegt dann nach 2,5 Stunden Fahrt Resende (mit Uran-Fabrik) vor uns ... Buswechsel ... wir ruhen, wegen unseres umfangreichen Gepäckes von Busfahrern belächelt, im Schatten eines merkwürdigen Baumes aus, dessen Blätter aus langen runde Stielen oder nach Algenart mehrfach verzweigt sind. Beim Einsteigen fallen uns einige Hippies auf. Brasiliens Hippies oder Freaks scheint es in die Berge zu ziehen. An den Gebäuden der Militärakademie fahren wir dem schon seit langem vor unserer Ankunft sichtbaren Gebirge entgegen. Besonders auffällig ist ein Gipfel mit zwei steinernen Höckern ... Für die knapp vierzig Km nach Mirantao sind noch einmal 2,5 h zu veranschlagen. Nach wenigen Minuten war die Asphaltstraße zu Ende und ein holpriger staubiger Weg begann. Die weichen runden Formen der grünen Hügel taten Leib, Augen und Seele gut ... die Fahrt wurde beschwerlicher, der Motor keuchte in den Steigungen im Schrittempo, an den besseren Stellen kamen wir auf 15 km/h. Als wir nach einer Stunde den Gipfel überquert hatten und nun hurtig bergab rasten, obwohl der Motorist heute seine erste Fahrt nach Mirantao machte, schloß sich eine hügelreiche Landschaft auf, überwiegend baumlos.
In Maua gab’s ein Hippiekleidergeschäft und kleine Pferde zum Reiten zu mieten. Ringsherum zogen die meist waldlosen Hügel hinauf. Die Dämmerung setzte ein, doch der Motorist fuhr drauflos, was das Zeug hielt. Immer wieder einmal stoppte er, um ein Paar, einen Arbeiter, eine älter Frau, ein paar Kinder aussteigen zu lassen. Sie verschwanden in einer Bananenplantage oder hatten einen Fußweg über das Gebiet einer Fazenda vor sich. Das Landschaftsbild hielt sich: Grüne sanfte Hänge, manche waldbedeckte Hügel, Ebene mit Weide, etwas Vieh, Flußläufe und Gebüsch und Einzelbäume. Die kurvenreiche Straße zog sich hin und her. Die Gegend war wirklich einsam. Warum hier wohl Menschen freiwillig hinzogen? Ohne Telefon! Auch Strommasten waren nicht zu sehen ... Inzwischen war es Nacht, sieben Uhr ... unser Zimmer in der improvisierten Pension mit zwei Halbklappen statt einer Tür zum Verschließen ... An der Wand hingen Landkarten aus der ganzen Welt ... offensichtlich hatte die ältere Tochter in aller Eile ihr Zimmer räumen müssen ... während des Abendessens schaute die Familie hingebungsvoll Fernsehen. Dieses war in einer Ecke des Raumes auf einem mit seiner Längsseite diagonal in die Ecke eingepaßten Brett aufgestellt und von allerhand Schmuckgegenständen umgeben: Der Ort sah wie ein Heiligenschrein aus. Da eine weitere Kommunikation nicht stattfand, zog ich mich ins Zimmer zurück, um für einige Stunden von Telenovellas genervt zu werden, die durch die Brettertüre zu mir hinüberschallten. Mit dem Wunsch, bei der Waldorf-Initiative Schülchen der Kleinen (Escolhina dos Pequenos) ein ruhiges Zimmer zu erhalten, schlief ich ein und erinnerte mich an meinen Ausflug in den Mata Atlantica Caledonia bei Nova Friburgo:

Mata Atlantica Caledonia
Pico Maior de Friburgo,
o ponto culminante
de toda a Serra do Mar brasileira.
Abgeholzter Regenwald.

In der Nacht verzaubert sich die Natur und alle äußere Hülle schwindet für das sehende Auge. Zuvor bietet die Dämmerung schwankende Gestalten und eine wartende Ruhe senkt sich über den Berg. Links und rechts verstärken sich die Laute aus den Wäldern. In der Mitte hat der Mensch freie Bahn geschaffen. Ein gepflasterter breiter Weg ist meine Garantie, mich nicht zu verlieren im unendlichen Grün. Kaum habe ich es gewagt, die grüne Wand zu durchbrechen, gelegentliche Blicke habe ich mir gegönnt und erlaubt. Hineinzugehen bedarf es großen Mutes. Wenige Schritte nur und eine dunkelgrüne Höhle umgibt einen. Kein Vor und Zurück, Links und Rechts. Nichts das allgemeine Grün einer Wiese ohne Blumen, sondern ganz spezielle Töne und Formen, ein Differenzierungsgrad, der einen wie ein Donnerschlag betäubt und erschreckt. Zuerst ist gar nichts zu sehen: Nur das allgemeine dunkle Grün und Schatten und etwas Licht. Viele Blattformen, Äste; Stämme; die Bromeliaceen, Farne, einiges ist zu identifizieren und vieles bleibt ein verschwommener Eindruck. Noch immer sitze ich und schreibe. Der Nebel über mir wird rosa-grau. Die Büsche und Baumwipfel bekommen kräftige schwarze Silhouetten gegen den Himmel, die den Pflanzenraum besonders betonen und die Nacht vorwegnehmen. Die Grillen beginnen. Einiges Piepsen scheint von Vögeln herzukommen. Ich beschließe hinabzugehen, denn die Furcht vor dem Unbekannten ist stärker als Neugier, Mut und Wunsch, es kennenzulernen. Doch die Bedrohung steckt nur in der Seele. Die Natur und ihre Gesellen drohen nicht. Die Angst kommt von unserer Entzweiung mit der Wesenswelt. Wir sehen nur die Oberfläche und der Tiefe weiche  wir aus. Ich gehe hinab – in die Tiefe zur Stadt und den Menschen ...

Schöner Horizont: Über Resende Uran-Fabrik nach Mirantao Waldorf Kindergarten hinter den sieben Bergen ... Belo Horizonte

In Mirantao wohnen etwa 300 Personen, keine hundert Männer, von denen sich einige als Angestellte von Fazendeiros verdingen, einige als Steinmetze und der Rest? Der Rest lebt von beinahe nichts. Morgens ein Cafezinho. Um 11 Uhr Cafe und Mais-Bohnen-Suppe. Um 15 Uhr Cafe mit etwas Mais. Am Abend: Nun, Bohnen. Cachaza wird gerne getrunken. Pinga kann immer bezahlt werden, auch wenn sonst kein Geld da ist. Julio bekam eine halbes Jahr Geld von der Escolhina für eine Baumschule. Wirtschaftlich war es eine Pleite wie die Paderia, die ebenfalls keinen Gewinn abwirft. Die Leute hier mögen das Vollkornbrot nicht bzw. essen gar kein Brot, backen selbst etwas oder können es nicht zahlen.
Das Grundproblem ist: Kapitalbildung. Wie kann etwas wirtschaftlich Tragbares entwickelt werden, wenn in dem Gebiet keiner dafür zahlen kann? Meine Lösung lautet Export von Dingen, die anderswo gebraucht werden. Und woher haben diese Leute ihr Einkommen? Entweder betrügen sie andere, sodaß diese nichts haben oder sie stellen etwas Wertvolles her, was gefragt ist.
Welche Stimmung lebt hier? Es ist ein Nest, in dem nichts passiert. Keine Bewegung. Keine Veränderung. Kinder laufen herum. Frauen schauen gelangweilt aus dem Fenster, spazieren auf der Straße herum, stehen am Hauseingang. Einige Häuser sind im Neubau, einige ge- und verschlossen und unbewohnt. Die Berghänge zeigen ebenfalls keine Hinweise auf besondere Aktivitäten. Wald, kein Wald, Wiese, einzelne Bäume, einige Baumgruppen. Sehr schön gewellte Abhänge. Wiederaufforstungen.
Was soll man hier tun?
Als die Initiative hier begann, verrichteten einige Kinder ihr Geschäft auf der Straße. Zahnbürsten waren unbekannt. Jetzt gibt es einen Kindergarten, eine Alphabetisierungsgruppe, eine Hebamme, einen Kleiderladen mit Spenden aus Europa, dessen Erlös eine Sozial-Versicherung für die Dorfbewohner in Notfällen finanziert, vollwertiges Essen für die Kinder, eine Beschäftigungsinitiative für Jugendliche, eine Minischule mit reformpädagogischer Lehrerin ...

Johannifest & Lasershow mit Daniela Mercury 92-Eco

Vom Hügel über der Stadt aus war Solanges und Fernandos kleiner Park an dem Schmuck der bunten selbstgebastelten Girlanden zu erkennen, die kreuz und quer durch den Garten gespannt waren. Das Brennholz für das Johannifeuer war bereits in Form einer zwei Mann hohen Pyramide gestapelt. Um 18 Uhr vergnügten sich bereits viele Kinder mit Herumtollen, Schaukeln, Wippen, Fangen – auf dem für das Dorf einmaligen gestalteten und gepflegten Gelände, das kleine Wege, Gebüsch, Sträucher, Blumen einen kleinen Pavillon, eine Hängebrücke über den Bach, Araucarien und kleine Orangenbäume bietet.
Die Südseite des Grundstückes ist von einer Häuserzeile wie ein Burgwall von der Hauptstraße abgeschlossen. Der Bach stellt mit seinen Bambushainen die natürliche Grenze nach Nordwest dar. Neben dem Altholzschuppen steht in Bachnähe das Holzhäuschen der Voluntaria Ingrid. Dahinter sind häufig Schweinegrunzer zu hören. Der Versammlungsraum folgt, daneben steht ein rundes Toilettenhäuschen. Auch eine kleine Festhalle, wo sonst Unterricht gegeben wird, ist vorgesehen. Heute abend wird dort getanzt. Eine Liveband mit Forromusik wurde angesagt. Im Kochhäuschen werden die Mahlzeiten für die Kinder vorbereitet. Heute abend ist hier Ausschank für heißen Kakao, heißen Ingwertee; auch Popkorn und Maiskuchen, von den Müttern gemeinsam gebacken und in Maiskolbenhüllen eingebacken, machten die Runde. Zur Straße hin liegen der Kindergarten und das Häuschen von Fernando und Solange. Ähnlich wie das Voluntariohaus ist der Kleiderbazar konstruiert.
Inzwischen sind schon zwei Dutzend Erwachsene – hauptsächlich Mütter – eingetroffen. Zum Auftakt spielt das Forroduo nur mit Akkordeon und Tambourin ein paar stimmungsvolle Lieder. Eine Mischung aus Schlager und Ländler, mit Melodien, die nie ein Ende finden.
Fernando eröffnet mit A. den Tanzreigen, zu dem sich gleich viele Paare einfanden. Nach der ersten Tanzrunde gab es eine Dichterlesung. Solange bedankte sich namentlich bei allen Mitwirkenden der Initiative und allen Helferinnen und Helfern des Festes. Dann wurde die Johannigeschichte verlesen. Zwei mutige Laiendichter aus dem Dorf meldeten sich zu Wort. Eine Mutter und ein Vater trugen ihre geschmiedeten Verse mit Lampenfieber vor. Nach diesen feierlichen Einleitungen durfte endlich der Dorfälteste die Pyramide an ihrer Spitze entzünden. Alle Umstehenden jauchzten auf, als die Flamme nach den abgestorbenen Zweigen der Araukarien leckten und ein tüchtiges Geprassel begann, daß die Funken nur so stoben. Im Schein des Feuers und seiner Wärme sangen wir gemeinsam einige Johannilieder. Besonders die Kinder taten tüchtig mit. Der eigentliche Höhepunkt der Zeremonien stand noch bevor. Das Feuerwerk rief ein erstes Entzücken hervor, das sich bei jedem farbenprächtigen Böller, der von den Mutigsten nicht etwa aus auf dem Boden stehenden Flaschen, sondern aus der Hand abgeschossen wurde, auf’s Neue lautstark äußerte.
Als die letzten bunten Feuerstrahlen an dem Himmel erloschen waren, wurde die traditionelle Botschaft an den Himmel abgesandt. Ein bunter Ballon ganz aus Papier und von innen durch ein Feuer erleuchtet, sollte in die nächtlichen Lüfte erhoben werden. Seine Form bestand aus zwei mit ihren Grundflächen zusammengesetzten Pyramiden, sodaß er etwa ein Meter Höhe erreichte. Unten befand sich eine kleine Öffnung und dort wurde eifrig hantiert und eine Flamme angezündet. Im Ballon wurde es heller und heller und seine Papierwände blähten sich genüßlich vor Wärme auf. Schon begann er noch etwas wackelig zu schweben. Hilfreiche Hände hielten ihn senkrecht, damit die unersättliche Flamme ihn nicht vor der Zeit verschlänge, bevor sie ihren Dienst erfüllt hatte. Als der Ballon genügend mit leichter Luft erfüllt war, riß er sich beinahe los, doch er konnte es wohl kaum erwarten, in Flammen aufzugehen, denn er segelte mitten auf die Flammensäule des Johannifeuer-Obelisken zu, die hoch in den Himmel schoß. Angstvolle bedauernde Blicke folgten ihm auf seiner gefahrvollen Reise und hätten ihn gerne schneller angehoben als er es von sich aus tat. Würde er die Feuertaufe bestehen? Er stieg schneller und schneller. Schon befand er sich mitten im Funkenflug, da ergriff ihn ein mächtiger Luftschwall und trug ihn eiligst nach oben. Die himmlischen Mächte rissen ihn förmlich nach oben. Sie hatten die menschliche Geste wahrgenommen und der schwachen Steuerkraft hilfreich unter die Arme gegriffen. So war unser Ballon im Nu höher und schneller oben als sonst üblich, und sein Licht schimmerte tröstlich und feierlich weit über uns und wurde immer kleiner, je weiter hinauf es ging, als wollte er sagen: „Ihr Dädulus‘ späte Söhne der technischen Zivilisation. Schaut her, wie leicht ist es zu fliegen, der Schwere zu entgehen und aufsteigendes Licht zu werden. Ohne Mondraketen, ohne Überschallflugzeug und ohne Hubschrauber: Macht es mir nach und tragt euer Licht hoch und höher statt es im Triumph der Megamaschinerie erlöschen zu lassen. Fürchtet die falschen Verheißungen und Vorspiegelungen der Leuchtdioden, Kontrolllampen, flimmernden Bildschirme und der elektrischen Lichternetze eurer Städte. Freut Euch, Euer Licht in den dunklen Himmel über euch Euch tragen zu können. Keine Gefahr, wie zu Dädalus‘ Zeiten im Flug der Sonne abzustürzen, besteht, wenn ihr Eurer Licht in der Nacht auffahren laßt.“ Der Ballon sprach’s und kaum hatte er seine Verkündigung getan, wurde es plötzlich dunkel um ihn. Die Erde machte ihre Rechte geltend und holte ihn mit Strenge zurück. Abwärts ging es, einmal leuchtete es noch auf, und die Sternschnuppe nahm im Verglimmen ihr Geheimnis mit in den Tod, wie es ihr gelungen war, so groß kühn und stark als nächtliche Sonne aufzusteigen.

An dieser Stelle erinnerte ich mich an das hypnotisierende bestimmt drei- bis fünftausend Menschen am Strand in seinen magischen Bann schlagende Hightech-Schauspiel im Flamengo Park bei der Abschlußveranstaltung des Global Forums während der UNCED 92 in Rio. Daniela Mercury, die brasilianische Nina Hagen, hatte das Publikum schon mit Swing da Cor (Tanz des Herzens) in Ekstase versetzt. Mir bislang nur aus Science Fiction Filmen oder im Kleinstmaßstab bekannt, zerschnitten urplötzlich von Synthesizerklängen in ihrer Wirkung verstärkt kilometerlange grüne Strahlen den Nachtraum über unseren Köpfen und führten auf den Oberflächen der fernen Hochhäuser an den Meer-Promenaden verrückte Vexierbilder, bezaubernde Ornamente und rasend schnelle Formveränderungen vor. Auf den Köpfen und Leibern der Zuschauer tanzten grüne Lichtpünktchen, wie wenn sich Tausende von Energiegespenstern jedes ein Partikel Seelenstoff krallen würden. Es war das exakte Gegenbild zum Pfingstwunder. Was haben der Herr und die Meisterin dieser unheimlichen und faszinierenden Irrlichtes namens LASER vor? Wir sehen Zeiten entgegen, wo die Menschen und Menschenmassen mit neuen Medien in  perfekter Weise manipuliert werden: Perfekte Ausgeburten einer Kreuzung aus nationalsozialistischen Aufmärschen, Comic-Figuren und seelenraubendem Laserballet ...

– Kaum war der Johannes-Ballon in die Lüfte gestiegen, setzten mit einem Schlag die Musiker ein und der Garten neben dem Feuer verwandelte sich in einen großen Tanzboden. Ich wagte mein erstes Tänzchen auf brasilianischem Boden. Ich hatte meinen Einstand mit Sylvia gegeben, die mich aufgefordert hatte und ganz hingerissen von dem Fest war, so daß sie mich ständig anstrahlte. Doch dies währte gar nicht lange. Sie hatte plötzlich einen Strohhut auf dem Kopf und ich eine fremde Tänzerin im Arm. Das Hutspiel war in vollem Gange. Auf diese Weise lernte ich einige Dorfbewohnerinnen unkompliziert kennen. Auch Tanzen ist eine Art Kommunikation. Das war für mich von großem Vorteil, denn Tanzen konnte ich auch ohne Brasilianisch zu sprechen, obgleich einige Tänzerinnen mir so viel Beweglichkeit abforderten, daß ich mich zeitweise wie eine hölzerne Schneiderpuppe und gar nicht galant fühlte. Besonders in den Umdrehungen, wenn ein bestimmter Fußwechsel, den ich nicht kapiert hatte, erfolgen mußte, wurde die männliche Gliederpuppe von einem dynamischen weiblichen Bein, das mir unvergeßlich einprägsam mit absoluter Energie federnd bei einem spezifischen Tambourinschlag an meinen inneren Oberschenkel prallte, um die Kurve geworfen und lernte so den Ausdruck: Das Tanzbein beherzt schwingen – Swing da Cor von Daniela Mercury auf der UNCED Rio Show – auf Brasilianisch leibhaftig kennen.
Am nächsten Tag sah ich die zu dem Bein gehörige Dorfschöne ganz unschuldig vor einem Haus sitzen, Hund neben dem Stuhl, Strickzeug auf dem Schoß ... ich grüßte unsicher von fern, ziemlich beschämt. Ich weiß nicht, ob sie mich nur schwach grüßte, weil ich zu schüchtern war, mich ihr zu nähern, um mich für die intensive muntere Tanzlektion zu bedanken und hoffe, daß ich eines schönen Tages nochmals Gelegenheit bekommen werde ... zum Tanzen und Danken.

(C) 1992, 2002, 2013 by Dirkmarkus Lichtenberger

http://dirkmarkuslichtenberger.de/reportagen-nachhaltig/brasilien-unced-92-eco/index.html






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